Ohne Begrenzungen

Geschrieben am 28.05.2025
von SR


Unsere Annahmen, Überzeugungen und das, was wir als „Fakten“ betrachten, sind in ihrer Natur begrenzt. Sie führen uns unweigerlich zu Schlussfolgerungen, die, per Definition, ein Ende darstellen. Ein Abschluss bedeutet immer, dass etwas zu einem Ende gekommen ist. Im Laufe der Zeit bilden sich aus unseren wachsenden Annahmen und Meinungen immer festere
Schlussfolgerungen, die mit älteren Gedanken verknüpft werden und ein komplexes Netz aus Überzeugungen erschaffen.

Wenn wir an diese Schlussfolgerungen glauben, errichten wir unwissentlich Mauern aus Wissen, die uns daran hindern, den wahren Weg der Weisheit zu
betreten.

Im Buddhismus, besonders im Chan, wird uns immer wieder nahegelegt, den Geist von diesen Begrenzungen zu befreien. Das Kultivieren eines offenen, grenzenlosen Bewusstseins erfordert, dass wir alle Hindernisse, die durch unsere Annahmen und Meinungen entstehen, loslassen.



Was wir für „die Wahrheit“ halten, muss zur Seite gestellt werd en, denn auch diese Wahrheit ist oft nur eine Schlussfolgerung. Um zu erwachen und die wahre Freiheit zu erfahren, müssen wir uns von unseren vorgefassten Meinungen und Illusionen befreien.

Eine zentrale Lehre des Buddha und der Chan-Praxis ist, dass wahres Erwachen nicht in starren Konzepten und festen Überzeugungen liegt. Der Zen-Praktizierende, der noch nicht das Erwachen erfahren hat, ist oft ein gutes Beispiel dafür. Dieser Mensch hat die „Wahrheit“ noch nicht vollständig erkannt, aber er übt sich darin, seinen Geist zu reinigen und von allen illusionären
Vorstellungen zu befreien. 

In diesem Prozess ist der Geist des Praktizierenden zunächst wie ein unbeschriebenes Blatt, offen und grenzenlos. Doch mit jeder neuen Schlussfolgerung, die er zieht, wird dieser Geist allmählich wie eine undurchdringliche Wand.


Die Chan-Praxis fordert uns dazu auf, nicht nach festen Antworten oder festen Wahrheiten zu suchen. 

Stattdessen wird uns beigebracht, den Moment zu erleben, ohne das Bedürfnis, alles zu definieren oder zu begrenzen. Wenn wir uns von den Ketten unserer eigenen Schlussfolgerungen befreien, öffnen wir uns für das wahre, unbegrenzte Wissen. Der Buddhismus lehrt, dass Erwachen nicht durch das Festhalten an Wissen oder Meinungen erreicht wird, sondern durch das
Loslassen dieser Konzepte, um einen Raum zu schffen, in dem wahre Weisheit entfalten kann.

Der Weg des Chan ist ein kontinuierlicher Prozess der Befreiung von den Illusionen des Denkens und des Wissens – ein Weg, auf dem der Geist nicht durch festgefahrene Gedanken begrenzt wird, sondern sich in der Weite der Unwissenheit und Offenheit ausbreitet.

Im Leben des Buddha finden wir viele Beispiele, die zeigen, wie er selbst die Begrenzungen von Annahmen und Schlussfolgerungen durchbrach, um die wahre Weisheit zu erfahren. Eine der bekanntesten Geschichten ist die von seiner Erleuchtung unter dem Bodhi-Baum. Als Siddhartha Gautama, der spätere Buddha, sich auf den Weg machte, die wahre Natur des Lebens zu verstehen, ging er durch unzählige Prüfungen. Er suchte Antworten in Askese, in extremem Entsagen und in tiefem Studium. Doch all diese Methoden führten ihn nicht zur wahren Erleuchtung.



Es war erst als er alle festen Vorstellungen und Schlussfolgerungen, die er sich im Laufe seiner Reise gebildet hatte, losließ, dass er die Wahrheit fand. Während seiner langen Meditation unter dem Bodhi-Baum wurde er von Mara, dem Dämon der Täuschung, heimgesucht. Mara versuchte, ihn von seinem Weg abzubringen, indem er ihm immer wieder falsche Wahrheiten und Illusionen präsentierte – die Vorstellung, dass „dieses Leben“ oder „jenes Ziel“ der wahre Weg sei. 

Doch Buddha ließ sich nicht von diesen Ablenkungen verstricken. Er erkannte, dass alle Begrenzungen des Denkens – alle Schlussfolgerungen über das, was er „wusste“ – ihn nur weiter von der wahren Erkenntnis entfernten.

In dem Moment, in dem er die Illusionen der Trennung und der „falschen Wahrheit“ losließ, erlebte er die Erleuchtung: die tiefste Einsicht, dass alles miteinander verbunden und im ständigen Wandel begriffen ist. Diese Erkenntnis war nicht das Ergebnis eines begrenzten Wissens, sondern das Ergebnis eines vollkommen offenen Geistes, der alle vorgefassten Meinungen und
Vorstellungen losgelassen hatte. In diesem Moment wurde er zu „Buddha“, dem Erleuchteten – jemandem, der den wahre, grenzenlose Natur des Lebens erfahren hatte, jenseits aller Illusionen und falscher Schlussfolgerungen.



Eine weitere Geschichte, die das Loslassen von Annahmen und Schlussfolgerungen verdeutlicht, ist die von dem König Bimbisara. König Bimbisara suchte den Buddha auf, um von ihm Weisheit zu erlangen. Doch anstatt ihn um spezifische Antworten zu bitten oder klare Schlussfolgerungen zu erwarten, stellte der König eine einfache, aber tiefgründige Frage: „Was ist der wahre Weg des Friedens?“ Der Buddha antwortete ihm, dass der Weg des Friedens nicht in der Erfüllung von
äußeren Wünschen oder in der Ansammlung von Wissen liegt, sondern in der Befreiung des Geistes von allem, was ihn in die Irre führt – von den falschen Vorstellungen und den angehafteten Meinungen.

Diese Begegnung zeigt, dass der Buddha den König dazu anregte, nicht nach festen Wahrheiten oder endgültigen Antworten zu suchen, sondern nach einem Zustand des Geistes, der offen ist und sich nicht an starren Schlussfolgerungen festhält. Der wahre Frieden, so der Buddha, kommt durch das Loslassen und das Erkennen, dass alle Annahmen über das Leben letztlich begrenzt
sind und uns nur von der wahren Erkenntnis trennen.



Die Lehren des Buddha betonen also immer wieder, dass wahres Erwachen nicht durch das Festhalten an Konzepten oder das Streben nach festen Antworten erreicht wird, sondern durch das Loslassen aller Annahmen und das Offenwerden für die grenzenlose Realität des Lebens.

Wenn wir uns von unseren Schlussfolgerungen und Meinungen befreien, können wir den Weg der
Weisheit betreten, der uns zu einem tieferen Verständnis des Lebens führt – genau wie es der
Buddha selbst erlebte.



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